Weisheit bezeichnet genau jenes Unterscheidungsvermögen, das uns erkennen lässt, welche Gedanken und Handlungen zu echtem Glück beitragen und welche es zerstören. Weisheit beruht immer auf unmittelbarer Erfahrung, nicht auf Lehrsätzen
Matthieu Ricard (aus: „Glück“ 2007, Orig. „Plaidoyer pour le bonheur“ 2003)
Als Religionswissenschaftler ist man fast schon per definitionem kritisch gegenüber den unterschiedlichen Formen von Religion und Religiosität bzw. von Spiritualität eingestellt. Diese kritische Einstellung bezieht sich allerdings auf den religionsinhärenten Anspruch auf Wahrheit, auf Deutungshoheit, welcher bei monotheistischen Glaubensrichtungen meist ausgeprägter ist als bei polytheistischen oder animistischen Glaubenvorstellungen.
Offen sollten Religionswissenschaftler und Professionelle, welche mit unterschiedlichen Religiositäten von Menschen zu tun haben, sein, wenn es um die Frage geht, ob der jeweilige Glauben des Einzelnen oder einer Gruppe diesem resp. dieser hilft, mit den Herausforderungen, mit den Schicksalsschlägen, welche das Leben bereithält, so umzugehen, dass das hiermit verbundene Leiden reduziert wird.
Kann Religion / Spiritualität, aber auch eine weltliche Ideologie ein Unterstützung sein, mit dem Mitmenschen ebenso wie mit der Umwelt, sinnhaft, achtsam und „human“ umzugehen, oder bleibt es beim „Homo homini lupus“- macht sie mich zu des „Menschen Wolf“?
In der Begegnung mit Menschen, welche Folter, Krieg und Flucht erlebt haben lernt man, wie eine unterschiedliche kulturelle, incl. religiöse Sozialisation eine nachhaltige Auswirkung auf den Umgang mit traumatischen Erfahrungen haben kann – positiv wie negativ.
Aber auch Menschen, welche allgemein gesprochen als “ verrückt“ gelten, sind oft nur „Normabweicher“. Eine „Norm“, welche oft, aber nicht immer von Mehrheit definiert wird, und auch dann sich die Frage stellt, ob diese „Norm“ richtig oder falsch ist….
Auch sollte man sich in der Begegnung mit diesen Menschen die Frage stellen, inwieweit dieses „Abweichen von der Norm“ oder das „Abweichen von der Normalität“ Leiden produziert – beim Betroffenen, seiner sozialen Umgebung oder der Gesellschaft per se.
Die Rolle der Religion ist nicht, wie von den Vorkämpfern der Achtundsechziger postuliert, zu einer Randnotiz in den Geschichtsbüchern verkümmert, sondern hat an Bedeutung stark zugenommen – mit allen hiermit verbundenen positiven und negativen Implikationen. Der Mensch ist dadurch nicht unbedingt freier geworden, sondern fraglich abhängiger. Auf jeden Fall zeigt das Erstarken der Religionen den Wunsch der Menschen nach klaren und für sie verständlichen Antworten.
Dass Religionen aus soziobiologischer Perspektive betrachtet per se eher menschliches Zusammenleben friedvoller machen sollen, widerspricht häufig der gelebten Praxis und den Vorstellungen einiger ihrer Protagonisten. Und trotzdem kann individuelle und kollektiv gelebte und erlebte Religiosität und Spiritualität eine Kraftquelle darstellen, welche es im Kontakt insbesondere mit Menschen aus anderen Kulturen und in Krisensituationen zu würdigen und in der Therapie zu berücksichtigen gilt. Gerade der Umgang mit Verlusten und die Frage nach der Sinnhaftigkeit und der Lebensplanung kann durch Berücksichtigung und Diskussion weltanschaulicher und religiös/spiritueller Einstellungen erleichtert werden.

